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Reportagen

Aus einsam wird gemeinsam

Gerade in der dunklen Jahreszeit und während der Feiertage fühlen sich viele Menschen einsam. Und das quer durch alle Altersgruppen. 

Wie entsteht Einsamkeit, welche Folgen kann sie haben und wie können Nachbarschaft und persönliche Initiativen helfen, die gefühlte Isolation zu überwinden?

Kathia Rauer von der AWO Hannover

Morgens um 9.30 Uhr. Kathia Rauer, Quartierskoordinatorin der Arbeiterwohlfahrt Region Hannover e. V. (AWO), setzt sich auf ihr Lastenrad. Die Thermoskannen auf ihrem Anhänger sind gefüllt mit Kaffee und Tee. Ihr Ziel: Am Königsberger Ring in Anderten mit älteren Menschen ins Gespräch zu kommen und über Angebote sowie Unterstützungsnetzwerke im Alter zu informieren. Zweimal pro Woche stehen sie und ihre beiden Kolleginnen an frequentierten Plätzen im Rahmen des Projekts „Mittendrin älter werden – aktiv vor Ort“. „Der Anteil älterer Menschen wächst stetig. Wir möchten sie mit niedrigschwelligen Angeboten erreichen, ihrer wachsenden Einsamkeit entgegentreten und ihre Teilhabe fördern“, erklärt die Sozialarbeiterin. Während sie am Königsberger Ring ihren kleinen Stand aufbaut, kommt ein älterer Mann vorbei. Rauer lächelt ihn freundlich an und fragt, ob er einen Tee oder Kaffee möchte. „Warum nicht“, schmunzelt er und fragt, was sie hier macht. Sie erklärt es und zeigt ihm einen Flyer mit Quartiersangeboten für Seniorinnen und Senioren. „Wir wollen nicht aus einem Mangel heraus kommunizieren, sondern dazu motivieren, sich im Stadtteil zu begegnen, wir treten dafür ein, mehr miteinander zu kommunizieren und in Kontakt zu kommen!“ Einige ältere Menschen kommen regelmäßig, wenn sie dort steht. Manche setzen sich dann einfach auf ihren Rollator und trinken schweigend einen Tee. „Das ist völlig in Ordnung“, betont die AWO-Mitarbeiterin: Es gehe schließlich darum, in Gesellschaft zu sein statt allein zu Hause vor dem Fernseher.

Mehr Hilfe und Unterstützung in Sicht

Jeanette Kießling in der „AWO sprechZEIT“ in Linden

In Großbritannien gibt es bereits seit 2018 ein Staatssekretariat für Einsamkeit, und Ärzte können soziale Aktivitäten verschreiben. Auch in Deutschland wird das Thema seit der Pandemie ernster genommen. Das „Kompetenznetz Einsamkeit“ (KNE) vernetzt Engagierte, bündelt Wissen und stellt Angebote für Betroffene bereit. Das Bundesfamilienministerium stellt aktuell 70 Millionen Euro Förderung zur Bekämpfung von Einsamkeit zur Verfügung. Rund 20 Kommunen erhalten für das Projekt „Zusammenhalt stärken – Menschen verbinden“ bis 2027 rund 3,1 Millionen Euro aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds ESF Plus. Daraus schöpft auch die AWO mit Projekten wie „Mittendrin älter werden – aktiv vor Ort“.

Klar haben wir uns alle in bestimmten Situationen schon einsam gefühlt. „Wichtig ist aber, dass es kein chronischer Dauerzustand wird. Denn das ist das, was uns krank macht“, sagt der Soziologe Dr. Janosch Schobin, der zu Einsamkeit als sozialem Phänomen forscht und am Kompetenznetz Einsamkeit (KNE) beteiligt ist. Einsamkeit habe nicht nur psychische, sondern auch gravierende physische Folgen. Studien zeigen, dass chronische Einsamkeit das Risiko für Drogen- und Alkoholkonsum, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Depressionen und Demenz erhöht. Auch müsse man zwischen Einsamkeit und Alleinsein unterscheiden: „Einsamkeit ist eine negative Empfindung. Alleinsein ist ein körperlicher Zustand.“ Man kann umgeben von Menschen sein und sich einsam fühlen, man kann aber auch allein sein und sich glücklich fühlen.

Tabuthema Einsamkeit

Einsamkeit ist eine negative Empfindung

„Das Gefühl von Einsamkeit kann wahnsinnig stark sein, kaum zu ertragen oder nur so ein ganz milder Stachel im Fleisch“, weiß Schobin. Studienergebnisse zeigen, dass – neben einem niedrigen Schulabschluss und Migrationshintergrund – auch bei jungen Menschen die Armut ein Hauptgrund für diesen Zustand ist: „Alles, was sich unter die Kategorie Armut fassen lässt, ist ein Risikofaktor, wie ein geringes Einkommen, geringe Bildung.“ Armut sei genauso wie das Gefühl von Einsamkeit oft schambehaftet. „Man igelt sich dann ein und macht die sichtbare Oberfläche klein, damit man nicht viel gesehen wird und der Scham ausweichen kann.“ Die gesellschaftliche Teilhabe ist zudem geringer, wenn soziale Aktivitäten aus finanziellen Gründen nicht zu leisten sind.

Doch auch flexibles Arbeiten und Homeoffice tragen dazu bei, dass Menschen weniger feste soziale Ankerpunkte haben. Die Folge: weniger tägliche Begegnungen, weniger spontane Gespräche und der Verlust an sozialer Interaktion. 

Die AWO aktiv im Quartier

Aus einsam wird gemeinsam

Digitale Plattformen können helfen, Kontakte zu knüpfen und zu halten – sie ersetzen jedoch nicht die Qualität echter Begegnungen. Besonders ältere Menschen haben oft keinen Zugang zu diesen Technologien. Hier setzt die Arbeit von Quartiersmanagerin Rauer und ihrem Team an, die direkt auf die Menschen zugehen und sie zu Veranstaltungen einladen. „Ich frage die älteren Menschen oft, was sie sich für ihren Stadtteil noch wünschen. Das ist eine wahre Inspirationsquelle“, erzählt Rauer begeistert. Daraus sei etwa das Sonntagscafé oder das Boule-Treffen für Senioren in der List entstanden.

Von der „AWO sprechZEIT“ für Senioren bis hin zu Aktionen und Jugendzentren für Kinder und Jugendliche: Die AWO, spar+bau und andere Organisationen bieten in vielen Stadtteilen Hannovers unterschiedliche Angebote für alle Altersgruppen und Lebenssituationen an, um der Einsamkeit zu entfliehen. Man kann also etwas gegen das traurige Gefühl tun, indem man sich informiert, über seinen eigenen Schatten springt und Orte aufsucht, bei denen man Menschen trifft, denen es ähnlich geht: „Es ist jetzt an der Zeit, dass wir mit dem Thema ‚Einsamkeit‘ offener umgehen und weitere schöne Begegnungsorte in der Nachbarschaft schaffen“, ist Silke Oppenhausen, Leiterin der Seniorenarbeit bei der AWO, überzeugt.

Hallo Nachbar! Gemeinschaft braucht Begegnung.

Gemeinschaft braucht Begegnung

Der Aufbau einer engen Nachbarschaft kann dazu beitragen, dass sich Menschen weniger allein fühlen. Neben den Pinnwänden in den Hauseingängen lassen sich digitale Plattformen und Apps wie www.nebenan.de und WhatsApp nutzen, um Nachbarschaftsgruppen zu gründen, gemeinsame Interessen zu entdecken, sich einfach auszutauschen oder sich gegenseitig zu unterstützen. Ob Grillfeste, regelmäßige Lesekreise oder Koch- und Sportgemeinschaften, Pflanzaktionen oder das Organisieren kleiner Hilfen für ältere und alleinlebende Nachbarn wie Einkäufe und Spaziergänge: „Wir alle können dazu beitragen, dass sich weniger Menschen allein fühlen – durch das Mitwirken an Aktivitäten oder einfach nur ein Lächeln und ein nettes Gespräch im Treppenhaus“, so die Leiterin unserer spar+bau-Treffpunkte, Petra Fahl. Vielleicht kennen auch Sie jemanden in Ihrem Umfeld, von dem Sie vermuten oder wissen, dass der- oder diejenige sich allein fühlt? Machen Sie den ersten Schritt. Gemeinsam statt einsam – das sollte das Motto für eine solidarische und lebenswerte Zukunft sein.

Lesetipp

Einsamkeit überwinden
Sich geborgen, geliebt und verbunden fühlen
Dr. Doris Wolf
PAL-Verlag_152 Seiten
12,80 €

Anrufstellen bei Einsamkeit 

  • Anonym. Vertraulich. Kostenfrei.
    Einfach mal mit jemandem reden? Hier treffen Sie auf offene Ohren!
  • Silbernetz e. V.
    Ein Netzwerk gegen Einsamkeit im Alter täglich erreichbar_8 – 22 Uhr: T 0800 4 70 80 90
  • TelefonSeelsorge® Hannover
    Rund um die Uhr erreichbar: T 0800 1110 111
  • Nummer gegen Kummer 
    Für Kinder und Jugendliche
    Mo – Sa_14 – 20 Uhr: T 116 111

Kommen wir miteinander in Kontakt

Vereinsamung kann jede und jeden treffen. Doch wir können etwas dagegen tun: Etwa offen sein für Begegnungen, gemeinschaftliche Aktivitäten und Hobbys teilen oder ehrenamtlich tätig werden. Mit Menschen in Kontakt zu treten, kann dazu beitragen, (wieder) ein Gefühl der Zugehörigkeit und Sinnhaftigkeit zu erlangen. Unser spar+bau Treffpunktprogramm bietet ebenfalls eine Vielfalt an Begegnungsräumen; es liegt diesem Magazin bei.

Digitale Plattformen für reale Begegnungen

  • www.meetup.de für das Finden von Bekanntschaften mit gleichen Interessen, (lokalen) Gruppen und Events.
  • www.nebenan.de oder www.nextdoor.de für den Austausch, das Initiieren gemeinsamer Aktionen, Verschenk- und Verkaufsangebote oder das Verteilen von Informationen in der Nachbarschaft.
  • www.lebensfreunde.de ist ein Kontaktportal für Menschen ab 50 Jahren, auf dem sich Freunde, Partner, Bekanntschaften und Reisepartner finden lassen.
  • www.single-freizeitclub-hannover.de bietet Alleinlebenden von 50 bis 99 Jahren gegen einen Mitgliedsbeitrag von 18 Euro monatlich gemeinsame Aktivitäten.
  • www.kompetenznetz-einsamkeit.de/angebote präsentiert viele Angebote für unterschiedliche Altersgruppen und Lebenssituationen.
  • www.awo-hannover.de/unsere-angebote bietet kostenfreie oder günstige Aktivitäten und Begegnungsräume für Kinder, Frauen und Familien, Jugendliche, Migranten und Senioren. Das Programm kann auch telefonisch erfragt bzw. angefordert werden: T 0511 21978-123.

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