Mit 18 Jahren entdeckte er seine Leidenschaft fürs Kämpfen. Über 20 Jahre arbeitete er in einem integrativen Kinderladen. Heute ist der Vater einer Tochter Cheftrainer in seinem Verein „Tatami Martial Arts & Sport Hannover“. Doch nicht nur seine Tattoos erzählen spannende Geschichten: „Manni“ erweckt auch in seinen fantasievollen Büchern den kleinen Drachen „Tatami“ zum Leben.

Über dem Eingang des Kampfsportvereins Tatami Martial Arts & Sport Hannover hängt ein großes rot-weißes Schild mit dem Vereinslogo: ein sich um (s)einen Mittelpunkt drehender Drache. So dynamisch, als wäre er jederzeit kampfbereit. Manfred Boyd-Carta, der 1. Vorsitzende und Mitgründer des Vereins, führt durch die Trainingsräume. Hier lernen derzeit 650 Mitglieder im Alter von drei bis 60 Jahren Kickboxen, Thaiboxen, Boxen, MMA (Mixed Martial Arts), Yoga, Selbstbehauptung, Selbstverteidigung und Fitness. Auf den Regalen an der Wand stehen unzählige Pokale – allesamt Trophäen für diszipliniertes Training und ehrlich erkämpfte Siege auf nationaler und internationaler Bühne.
Die Persönlichkeit zählt

„Das Tatami ist ein familiärer Ort“, erklärt Boyd-Carta das Konzept, mit dem er und sein elfköpfiges Team sich seit mehr als zehn Jahren in der Vereinswelt einen Namen machen. Manni, so nennen alle den Cheftrainer, berichtet, dass sie auch 1.000 Mitglieder mehr haben könnten. Doch das entspräche nicht ihrer Philosophie. Hier zähle der Mensch, mit all seinen Stärken und Schwächen, nicht der Profit. „Wer den Verein betritt, bekommt Werte vermittelt. Wir sind offen für unser Gegenüber und begegnen uns mit Respekt. Egal ob Millionär, arm wie ’ne Kirchenmaus oder Menschen mit Handicap. Wir sind alle gleich, deshalb tragen wir auf der Matte unsere Tatami-Trikots“, betont der ehemalige Erzieher. Aus seiner 20-jährigen Erfahrung in einem inklusiven Kinderladen weiß der 52-Jährige, dass Menschen mit Beeinträchtigungen ganz selbstverständlich in eine Gruppe integriert werden können. Jeder trainiere im Rahmen seiner Möglichkeiten, da käme es dann nicht auf perfekte Schlag- und Tritttechniken an, sondern auf den Spaßfaktor, auf das Teilhaben. „Wer nicht ganz so beweglich oder schnell ist, wird beim Training ‚mitgenommen‘.“ Das Familiäre sei nicht in jedem Verein so, erklärt Manni. Zudem freut er sich darüber, dass immer mehr Mädchen und Frauen in den Verein eintreten, um Kampfsport zu lernen.
Gewaltprävention macht stark

Zusätzlich zum Kampfsport bietet Manni Gewaltpräventionskurse an. Er bestätigt eine Zunahme an Gewaltbereitschaft; gerade Jugendliche würden sich vermehrt mit Messern bewaffnen. Das sei ein Riesenproblem. Überzeugt davon, dass Gewaltprävention die Zukunft ist, um eskalierende Konflikte zu vermeiden, arbeitet er intensiv daran, die jungen Leute aufzuklären. Vor Kurzem trainierten 30 Mädchen von der Bismarckschule bei ihm. Ein paar hatten wenig Selbstvertrauen oder fühlten sich als Opfer. Durch das eigens entwickelte Selbstbehauptungstraining konnte Manni die in ihnen schlummernden Kräfte wecken. „Die sehr stillen Mädchen sind körperlich und mental über sich hinausgewachsen, nach drei Tagen ging es hier richtig ab“, freut er sich über deren Erfolgserlebnisse. Generell sei auch das Feedback der Lehrer sensationell, was für Manni heißt: „Alles richtig gemacht! Menschen mit wenig Selbstwertgefühl stärke ich. Die, die zu viel davon haben, versuche ich zu kompensieren und in die richtige Bahn zu lenken.“ Seine Kurse werden immer häufiger gebucht, insbesondere von Schulen und Unternehmen.
Manni will seine Trainierenden dazu motivieren, den Drachen in sich zu wecken. Er glaubt daran, dass jeder einen in sich trägt. Das tut er über das individuelle Fördern, spezielle Trainingsformen, ein gemeinsames „an die Grenzen gehen“ und über die im Anschluss stattfindende Gürtelprüfung, die die erbrachte Leistung sichtbar macht. Er selbst ist übrigens ein echtes Unikat: sehr energiegeladen, sehr durchtrainiert, sehr tätowiert. Würde er behaupten, er könne auch fliegen und Feuer spucken, wäre das absolut glaubhaft.
Der harte Weg zum Weltmeister

Aufgewachsen ist Manni in der Südstadt in sehr einfachen Verhältnissen. Sein Vater war Lkw-Fahrer und beruflich viel unterwegs. Seine Mutter kämpfte bereits damals mit Krebserkrankungen, ging zusätzlich arbeiten und zog drei Kinder groß. Heute ist die 80-Jährige zum vierten Mal an Krebs erkrankt. „Meine Mutter ist eine Kämpferin, ich komme ganz nach ihr“, sagt er voller Demut. Von ihr habe er gelernt, niemals aufzugeben.
Mit 16 Jahren machte er nach der Realschule eine Bäckerlehre und arbeitete vier Jahre als Geselle. Aufgrund einer Mehlallergie musste er notgedrungen umschulen. Er wurde Erzieher. „Das war mein Glück. Mit Kindern zu arbeiten ist großartig! Sie mögen mich, ich mag sie, das passt und erfüllt mich.“ Mit 18 Jahren nahm ihn ein Freund mit zum Boxen, wo er „ziemlich verhauen wurde“. Der Ehrgeiz war geweckt. Die geliebten Fußballschuhe wurden gegen Boxhandschuhe ausgetauscht. „Dinge, die ich nicht kann, will ich können.“
Dass er das Zeug zum Kämpfen und zum Gewinnen hat, liegt auf der Hand: Mit 27 Jahren begann er, an Wettkämpfen teilzunehmen. Von 200 Amateurkämpfen verlor er gerade mal fünf – seit fast zehn Jahren ist er unbesiegt. Wie er das schafft? „Ich nehme jeden Kampf extrem ernst und unterschätze niemals meinen Gegner. Ich bin fokussiert, diszipliniert und gebe alles, um zu gewinnen. Es macht mir Spaß zu kämpfen. Falls ich dann doch verlieren sollte, weiß ich, dass ich mein Potenzial voll ausgeschöpft habe, aber der andere besser war.“ Kampfsport gewinne man nicht allein über Muskeln – auch taktisches Verständnis, mentale Stärke und absoluter Wille seien Voraussetzung, um sich gegen Konkurrenten durchzusetzen.
Dass Manni elffacher Weltmeister ist, erwähnt er fast nebenbei. Zehnmal holte er den deutschen Titel im Kickboxen, einmal wurde er Europameister im Boxen. Die nächste Weltmeisterschaft, an der er teilnimmt, findet im Oktober in Wales statt. In seinem Alter sei das schon eine Grenzerfahrung. Das signalisiere ihm sein Körper, aber er will ein Vorbild sein für alle über 50-Jährigen. Dafür trainiere er hart und zweimal täglich. Er sei immer so gut vorbereitet, dass er theoretisch morgen an einer Meisterschaft teilnehmen könnte. Das kostet viel Kraft. Und bedeutet viel Verzicht.
Vom Fallen, Aufstehen und Wandern

Manni ist ein Macher. Aber auch er ist „nicht perfekt, sondern nur ein Mensch, der Fehler macht“. Er war zweimal verheiratet; die Tochter aus erster Ehe lebte bei ihm. Jahrelang meisterte er parallel drei Jobs: Kinderladen, Verein und Türsteher. Drei Monate vor Corona kündigte er seine Festanstellung als Erzieher, um sich zu 100 Prozent dem Tatami zu widmen. Dann stand das (Vereins-)Leben still. In dieser Notsituation half ihm ganz besonders seine zweite Ehefrau. „Ohne Barbara wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Sie motivierte mich, meinen Traum von einem eigenen Verein zu verwirklichen. Dank des großen Vertrauens von ein paar Freunden samt meiner hervorragenden Trainerkollegen ist Tatami gewachsen. So etwas schafft man nur im Team.“ Nach 14 glücklichen Jahren trennte er sich von ihr. „Unsere Lebensziele waren zu unterschiedlich, daran sind wir leider gescheitert.“ Das, was ihm fehlte, glaubte er, in seiner neuen Beziehung zu finden. Der „Mann mit harter Schale und viel zu weichem Kern“ verliebte sich in eine Frau, die 20 Jahre jünger war als er. Er begann mit ihr zu wandern und zu campen. Die Leidenschaft für die Natur blieb, aber sie hätten sich zur falschen Zeit kennengelernt, der Altersunterschied war zu groß. Der charismatische Manni hofft jedoch, eines Tages „die Frau für den Rest des Lebens“ zu finden.
„Das Lebensmotto meiner Mutter hat mich sehr weit gebracht: Wir sind die Summe unserer Fehler.“

Sein persönlicher K.-o.-Schlag war eine Funktionaldepression, hervorgerufen durch ein früheres traumatisches Erlebnis. „Privat bekam ich nichts mehr gewuppt. Von meiner Therapeutin lernte ich jedoch: Du darfst fallen!“ Manni konnte mit professioneller Hilfe wieder Fuß fassen. Er machte seine Ängste und Krankheit im Tatami öffentlich und erfuhr großen Respekt für seinen Mut, darüber zu reden. „Ich brauchte sehr lange, um mit mir ins Reine zu kommen. Nach außen musst du immer stark sein. Das ist ätzend. Ich war ausgebrannt, der Sport hat mich gerettet. Und, ganz wichtig: Auch Weltmeister brauchen mal Hilfe.“
Er lernte, den Moment zu leben, denn „schöne Momente kreieren sich aus der Zufälligkeit“. Das müsse man zulassen, und er könne das jetzt, resümiert er überzeugend. Seinen Ausgleich findet er beim Wandern. Bis Ende des Jahres will er 1.000 Kilometer schaffen. Ist er in der Natur, schaltet er ab. Hier dreht sich alles um (s)einen persönlichen Mittelpunkt. Er wirkt so, als hätte er ein weiteres großes Ziel erreicht: bei sich anzukommen. Tiefenentspannt – und immer kampfbereit.
Weitere Informationen finden Sie auf Instagram: @tatamiart und im web tatamiart.de
Drachenmut

Die Corona-Durststrecke nutzte Manfred Boyd-Carta, um seine Geschichten aufzuschreiben, die er immer seinen Kindergartenkindern erzählte. So erweckte er mithilfe seiner zweiten Ehefrau Barbara den kleinen roten Drachen „Tatami“ zum Leben; es geht um Courage, Toleranz und ums Anderssein. „Auch Drachen brauchen Mut“ ist sein wichtigstes Buch, denn: „Egal, wie stark du bist: Wenn du fällst, nimm Hilfe an.“ Die Bücher werden nicht verkauft – er verschenkt sie an Vereinsmitglieder und Kindergärten. Weitere Bücher zu den Themen Kinderdepression und Migration sollen folgen.