Vanessa Erstmann öffnet die Tür zu ihrer modernen Wohnung in der Südstadt. Aufgeräumt, stilvoll, mit farbigen Akzenten – ein Zuhause, das ihre Persönlichkeit widerspiegelt. Ein großes Bild von David Bowie begrüßt Besucher im Flur, eine gläserne Designerlampe schwebt über dem Esstisch, das grüne Sofa setzt ein Statement im Wohnzimmer. „Meine Wohnung ist mein Wohlfühlort“, sagt die 39-Jährige.
Struktur ist ihr wichtig – nicht nur im Job, sondern auch in ihren eigenen vier Wänden. „Ich habe oft fünf Baustellen gleichzeitig. Wenn man da die Fäden nicht in der Hand behält, geht man unter.“ Neben der Ordnung ist ihr die Nachbarschaft ein Herzensthema: „Wir nehmen hier viel Anteil aneinander. Einige waren sogar bei meiner Buchvorstellung.“ Kleine Gesten, wie ein Schoko-Weihnachtsmann zu Weihnachten oder ein Plausch im Treppenhaus, machen für sie das Miteinander aus.
Zwischen Small Talk und Rückzug

Als Historikerin, Freiberuflerin und Vorsitzende des Jazz Club Hannover ist Erstmann viel unterwegs. „Ich bin ein kommunikativer Mensch, Small Talk liegt mir. Aber Netzwerken und Repräsentieren kostet auch Energie.“ Nach langen Tagen genießt sie daher Momente der Stille: „Einen Abend auf dem Sofa mit einem guten Krimi, einem Podcast oder Puzzle – das ist für mich Luxus.“ Um den Kopf freizubekommen, spaziert oder joggt sie zudem gerne um den Maschsee.
Eine Stadt auf der Suche nach ihrem Image

Ihr Buch „Reden wir über Hannover – das wird genügend harmlos sein“ basiert auf ihrer Doktorarbeit über das Image und die Imagearbeit der Stadt. Der Titel zitiert Theodor Lessing, der Hannover einst als „Paradies der Mittelmäßigkeit“ beschrieb. „Ich habe für meine Forschung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgeschaut, weil es den Anfang der Stadtwerbung markierte“, erklärt Erstmann. Die Eisenbahn verband nun Städte miteinander und zog Reisende an. Hannover nutzte seine günstige Lage frühzeitig: „Bereits 1883 gründeten Honoratioren den ‚Verein zur Förderung des Fremdenverkehrs und der Verschönerung Hannovers’.“ Daraus entstand später der erste Slogan: „Großstadt im Grünen“. Gleichzeitig wurden das reichhaltige Sportangebot und die Vielfalt der Vereine als Imagefaktor genutzt und Hannover als „Sportstadt ersten Ranges“ beworben. Hannover habe also die Anfänge der Stadtwerbung nicht verschlafen. „Ganz im Gegenteil“, resümiert die Wissenschaftlerin.
Vom Wunder zum Schatten – die Stadt nach dem Krieg

Nach 1945 erlangte Hannover internationale Aufmerksamkeit für seinen schnellen Wiederaufbau. „Man sprach vom ‚Wunder von Hannover‘. Die Stadt war zu 90 Prozent zerstört, doch schon 1947 richteten wir die erste Export-Messe aus.“ Was im Laufe der Zeit als funktional durchdachte autogerechte Stadt gefeiert wurde, galt in den 1960ern schon wieder als seelenlose Betonwüste. Hannover brauchte ein neues Image – und begann, auf Kunst und Bürgerbeteiligung zu setzen.
Der langjährige hauptamtliche Imagepfleger Hannovers, Mike Gehrke, prägte von den 1970ern bis zu seinem Ableben 2004 das Stadtbild entscheidend mit. Er organisierte Straßenkunst, Altstadtfeste, den Flohmarkt – Aktionen, die Farbe und Leben in die Stadt brachten. „Er hat der Stadtbevölkerung ein neues Lebensgefühl geschenkt“, findet die Historikerin. Dennoch blieb Hannover im Selbstbild zurückhaltend. „Die Hannoveraner stellen ihr Licht zu oft unter den Scheffel. Dabei hat die Stadt mit ihren vielen Grünflächen, den kurzen Wegen und dem reichhaltigen Kultur-, Gastronomie- und Freizeitangebot alles, was sich Menschen an Lebensqualität wünschen können.“

Erstmann wünscht sich mehr Bewusstsein für die kulturelle Bedeutung Hannovers. „Wir sind zum Beispiel seit 2014 UNESCO City of Music – aber viele wissen das gar nicht!“ Dabei stammt der mobile Klang von hier: Schallplatten, Kassetten, CDs und MP3 – alles Innovationen aus Hannover. „Stellen Sie sich vor, wie eine Stadt wie Hamburg das ausschlachten würde! Hannover dagegen bleibt bescheiden. Obwohl die Stadt ein reiches musikalisches Erbe hat, das es zu bewahren und sichtbarer zu machen gilt.“
Der Jazz Club Hannover: Ihre zweite Heimat

Seit 2020 leitet Erstmann den Jazz Club Hannover – eine Institution mit internationaler Strahlkraft. Ihr Weg dorthin begann durch die Forschung: Mike Gehrke, der einstige Imagepfleger der Stadt, war über Jahrzehnte auch Vorsitzender des Clubs. „Ich fand im Stadtarchiv und im Jazz Club Hunderte Aktenordner aus seiner Amtszeit. Der Jazz Club ließ mich in seinen Räumen die Akten wälzen – und ich wurde Teil der Familie.“ 2016 feierte der Club sein 50-jähriges Bestehen. Erstmann schrieb die Jubiläumsschrift und brachte neue Ideen für die Öffentlichkeitsarbeit ein. Das fand großen Anklang. 2017 wurde sie in den Vorstand gewählt, um den Club weiterzuentwickeln. „Jeder Verein braucht junge Leute mit frischen Ideen. Für mich ist der Jazz Club auch ein Ventil, um Imagepflege für die Stadt zu betreiben.“ Schließlich ist der weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt – vor allem in den USA, wo er als „Orange Club“ gilt, benannt nach seiner markanten Wandfarbe. Internationale Jazz-Größen traten hier auf. „Der Jazz Club ist eine der wichtigen Säulen unserer Musikstadt. Es ist ein Ort, an dem das Herz hängt – familiär, nahbar und voller Geschichte.“ Erstmann setzt auf Vielfalt und junge Talente. „Wir bieten nicht nur Jazz, sondern auch Blues, Soul, Funk und Swing. Und wir fördern Nachwuchsmusiker.“
Außerdem gibt es diverse Kooperationen mit anderen Kultureinrichtungen. Eines ihrer aktuellen Lieblingsprojekte: Nach der Musicalaufführung von „Chicago“ in der Staatsoper gab es ein Jazzkonzert im dortigen Laves-Foyer. Auch Open-Air-Konzerte, etwa beim enercity swinging hannover an Himmelfahrt oder bei den Sommernächten im Gartentheater in den Herrenhäuser Gärten, liegen ihr am Herzen. „Wir wollen den Jazz raus in die Stadt tragen – dahin, wo die Leute sind.“

Neben ihrem Hauptberuf investiert Erstmann oft bis zu 25 Stunden pro Woche in den Jazz Club. „Das muss man wollen. Ich hafte für den Club, auch wenn es ein Ehrenamt ist. Das nehme ich sehr ernst. Es ist ein Bekenntnis – zu Hannover, zur Kultur, zur Musik. Ich trat in die sehr großen Fußstapfen von Mike Gehrke, weil uns die Liebe zur Heimatstadt und zur Imagepflege verbindet. Es hat sich so gefügt.“
„Wir wollen den Jazz raus in die Stadt tragen – dahin, wo die Leute sind.“

Der vor fast 60 Jahren in einem ehemaligen Kohlenkeller gegründete Jazz Club Hannover auf dem Lindener Berg zählt zu den renommiertesten Musikclubs Europas. Hier spielten bereits Legenden wie Duke Ellington, Louis Armstrong oder Benny Goodman.
Hannover entdecken – mit offenen Augen
Für Stadtbesucher hat Erstmann klare Empfehlungen: „Man entdeckt Hannover am besten zu Fuß. Besonders im Sommer, wenn alles grün ist.“ Neben Klassikern wie Maschsee, Altstadt und Flohmarkt empfiehlt sie das Erkunden der einzelnen Stadtviertel: „In Linden sollte man ein Wegbier auf der Limmerstraße trinken – neudeutsch: ‚Limmern‘. In der Südstadt den Wochenmarkt besuchen.“ Auch traditionelle Veranstaltungen wie das Schützenfest mit Schützenausmarsch und Lüttje Lage sind Teil der Stadtidentität. Kultur gehört für sie dazu. „Museen, Konzerte, Theater – und natürlich ein Besuch im Jazz Club. Dann spürt man schnell: Hannover ist alles andere als mittelmäßig.“
Eine Frau, eine Stadt, eine Mission

Vanessa Erstmann ist Historikerin, Netzwerkerin und Kulturmacherin. Mit ihrem Buch hat sie Hannovers Vergangenheit erforscht – mit ihrer Arbeit im Jazz Club gestaltet sie die Zukunft der Stadt mit. Sie wünscht sich, dass die Hannoveraner ihre Stadt mehr wertschätzen. „Wir haben hier eine Lebensqualität, die andere Städte sich wünschen würden. Wir müssen es nur selbst glauben – und es erzählen!“

Dr. Vanessa Erstmann, geboren 1985 in Hannover, ist Historikerin und Autorin. 2021 promovierte sie an der Leibniz Universität über die historische Entwicklung des Stadtimages unserer Landeshauptstadt. Daraus resultierte 2024 die Buchveröffentlichung „Reden wir von Hannover – das wird genügend harmlos sein.“ Seit 2020 ist sie zudem ehrenamtliche Vorsitzende des Jazz Clubs in Linden. Beruflich unterstützt sie Unternehmen bei der Aufarbeitung ihrer Historie, ihrer Kommunikation und Imagepflege mit dem sogenannten „History Marketing“.
10 Jahre UNESCO City of Music – Kommende Highlights
- 11.4. Lutz Krajenski und Markus Becker – An der Börse 2
- 29.5. enercity swinging hannover – Platz der Menschenrechte
- 28.6. Sommerfest mit York und Martha High – Garten des Jazz Club Hannover
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Jazz Club Hannover e. V.
Am Lindener Berge 38
30449 Hannover