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Reportagen

Melancholie in Babyblau

Künstler Sebastian Maria Otto hat mit 47 Jahren bereits ein bewegtes Leben hinter sich: Seine Welten wandern zwischen rastlos und ausgebremst. Und immer wieder zu sich selbst finden.

Ein Atelier im Volgersweg, die Tür im Erdgeschoss öffnet sich. Der erste Blick hinein: Hier hat sich kreatives Chaos seinen Weg gebahnt. Die Erwartungshaltung, auf Anhieb von zauberhafter Kunst übermannt zu werden, stellt sich nicht gleich ein. Zu früh geurteilt. Künstler Sebastian Maria Otto gewährt uns einen Einblick in seine farbenfrohen vier Wände. Es ist eine Welt, die voller Empfindungen und Gefühle steckt.

Die Räume, in denen Sebastian Maria Otto Tage und Nächte verbringt, brauchen Zeit, bis sie wirken. Wie ein guter Rotwein, der dekantiert wird, um Luft an seine Oberfläche zu lassen und so sein Aroma aus dem Inneren hervorzuholen. „Das ist mein Rückzugsort, meine Wohlfühloase", beschreibt Otto seine künstlerische Stätte. Und hier ist der 47-Jährige nicht allein. Wir werden beobachtet. Es sind eindringliche, tiefe Blicke, die Besucher aus großen, runden Augen fixieren. Sensibel, traurig gemalte Kulleraugen, die Melancholie ausstrahlen und davon erzählen, dass das Leben schön ist. Schön schwermütig. 

Der gebürtige Görlitzer Otto nennt seine porträtierten Kinderfiguren MeiMeis, nach einer asiatischen Künstlerin, die ihn in seinem Schaffen beeinflusst hat. MeiMeis sind sein Markenzeichen. Und sie befinden sich überall im Atelier. Gemalt auf überdimensionierten Leinwänden, eingerahmt zwischen Passepartouts, verziert auf Schuhkartons und Holzkisten, Zigarettenboxen, Stoff oder Papier. Tätowiert auf Ottos Unterarm. Die Porträts wirken kindlich, doch sind sie gleichzeitig das Spiegelbild seiner selbst. „Ich sehe sie nicht als Ausdruck von Kunst", es sei mehr ein nach außen gekehrtes Lebensgefühl, gezeichnet mit Kohle, eingetaucht in bunte Acrylfarben. „Diese Bilder zeigen viel von dem, was ich bin. Ich war schon sehr früh auf mich allein gestellt. Das hat mich geprägt." Für die Schwere in seinen Werken, die er am liebsten mit grellen Lieblingsfarben wie Rosa oder Babyblau konterkariert, hat er sich nie bewusst entschieden. „Es ist einfach aus mir herausgekommen, als meine Handschrift." Fröhliche Mimik? Hat er versucht, aber das waren nicht seine Figuren, nicht er.

Von Görlitz nach Springe

Aufgewachsen ist Otto in Görlitz, einer wie er sagt „dynamischen Kleinstadt". Kurz nach der Wende beschlossen seine Eltern wegzuziehen, den damals 16-jährigen Sebastian packten sie mit ein. Seine neuen Koordinaten: Springe in der Region Hannover. „Das war schon ein Kulturschock, vom Kommunismus in den Kapitalismus." Ein anderes System, ein anderer Schlag Mensch. Otto suchte sich seine eigenen Wege und Freunde. „Ich bin oft nach Hannover gefahren, habe Leute aus der Graffiti-Szene kennengelernt und kam so erstmals
in Berührung mit Farben und Kunst", erinnert sich der Autodidakt. Gemeinsam fuhr die Gruppe durch Deutschland, sie verzierten große, legale Wände. „Und ich war immer derjenige, der Figuren gemalt hat. Buchstaben und Zahlen fand ich auf Dauer zu langweilig", sagt der gelernte Kaufmann für Bürokommunikation. 

Mit 20 Jahren folgte der nächste einschneidende Knall in seinem Leben. Auf der Rückfahrt eines Graffiti-Events schliefen alle Insassen im Auto ein. Fahrer inklusive. Der alte Golf II prallte gegen einen Baum, stürzte eine Böschung hinunter. Otto saß auf der Rückbank und war nicht angeschnallt. Diagnose: eingerissenes Kreuzbein, mit dem Leben davongekommen. Danach machte er Schluss mit Graffiti und den nächtlichen Touren, er wollte nur noch auf Leinwand malen. Aus der Not heraus entwickelte er eine Vorliebe für ein anderes Material: „Aus Geldgründen habe ich abends in Hannover nach Pappen gesucht, worauf ich mit Kohle und Acryl experimentieren konnte. Schwarze große Augen und Haare, das war mein Ding." Sein Traum, Kunst zu studieren, fand im Elternhaus keinen Anklang. Also brachte er sich vieles selber bei. Mit Erfolg.

Seine Entwicklung wirft ein Schlaglicht auf Ottos Willenskraft: „Die Ziele, die ich fokussiert habe, sind Realität geworden." Er lernte seinen bis heute engsten Freund und Geschäftspartner Torben Paradiek kennen, mit dem er die deutschlandweit vertriebene Marke Niemand Gin betreibt und damals die Kunstgalerie „Nice/Nice Exhibition" in der Deisterstraße gründete. Otto traf hier auf internationale Künstler, baute sein Netzwerk auf, spitzte seine Sinne für Geschäftsbeziehungen. An sein erstes verkauftes Bild erinnert er sich genau: 2008 an eine deutsche Schauspielerin. Seitdem umrundeten seine Werke auf Ausstellungen die Welt. Osaka, London, Luzern.

Ottos Kunstfakten:

Sein Ziel:
365 Tage im Jahr jeweils ein Porträt zu malen.
Sein Tintenverbrauch:
5 Flaschen à 250 ml schwarze indische Tinte im Monat
Sein größtes Bild:
4x3 Meter
Sein kleinstes Bild:
11x8 cm

Ein Leben ohne Rast

„Ich bin immer multitaskingfähig gewesen, habe drei Bilder parallel gemalt, Frühstück zubereitet, gleichzeitig den Geschirrspüler ausgeräumt und dabei getanzt." Er brachte sich neue Kunstskills bei, wie Siebdrucktechnik, powerte sich täglich vier Stunden beim Sport aus.

Er war der Erste und Letzte auf Events und wenn ihn die Laune juckte, stieg er in den Flieger und überquerte kurzerhand den Atlantik. Das New Yorker Kultviertel Brooklyn hat es ihm angetan. „Und doch kam in mir abends das Gefühl hoch, nicht viel geschafft zu haben", beschreibt er seine innere Unruhe. Bis das Schicksal im Herbst 2020 ein weiteres Mal auf die Stopptaste drückte.

Ein Aneurysma, eine lebensbedrohliche Gehirnblutung, bremste ihn von einer Sekunde auf die andere aus. Nach einem siebenstündigen Eingriff in der Medizinischen Hochschule Hannover musste er auf der Intensivstation versorgt werden. „Ich lag 22 Wochen im Bett", erinnert er sich. Die Folgen sind bis heute spür- und sichtbar. Während der Reha in einer neurologischen Fachklinik fing der Kreativkopf in vielen Dingen wieder bei null an. „Alles, was uns als so banal erscheint, war weg. Schlucken und essen, gehen, die ZEIT lesen." Der Schlaganfall, den er im Zuge des Aneurysmas erlitten hatte, führte zudem zu einer halbseitigen Lähmung. Bis heute besteht in seinem linken Fuß eine Spastik, in der linken Hand fehlt ihm das Gefühl.

Der Vorfall beeinflusst sein Leben und seine Kunst. Eine Einschränkung im Gesichtsfeld macht ihm das Sehen schwer, „nah an den Bildern zu arbeiten strengt mich sehr an. Ich arbeite daher schneller, mehr mit Farbakzenten, die ich über die Bilder lege, um weniger detailliert malen zu müssen." Sein Bauchgefühl sagt ihm aber, dass es besser wird. Um in seinem Alltag wieder mehr Struktur zu bekommen, malt er jeden Tag um 16 Uhr eine MeiMei. „Nur Rotwein trinken darf ich dabei nicht mehr, aufgrund der vielen Medikamente, die ich nehme. Das fehlt mir, da es immer zu meinem Malprozess gehörte. Der Geruch, das Gemütliche." Umso mehr hat er gelernt, wie zerbrechlich sein Körper ist. Er lässt die Dinge jetzt auf sich zukommen. „Alles ruhiger angehen lassen, geduldig sein. Nicht immer so leben, als ob es der letzte Tag wäre", beschreibt Sebastian Maria Otto sein neues Mantra. Aus seinen Augen glitzert fröhliche Melancholie. Das Leben? Ist schön! Und manchmal auch schwermütig.


 

Zur Person: Sebastian Maria Otto

Seine Kindheit und Jugend verbrachte der heute 47-jährige Sebastian Maria Otto in Görlitz an der Neiße, später zog er mit seinen Eltern in die Region Hannover. Dem Thema Kunst näherte er sich autodidaktisch, kontinuierlich arbeitete er in den vergangenen Jahren an seinem einzigartigen Stil. Ausgestellt wurden seine Werke weltweit. Der zweifache Vater wohnt in seinem Lieblingsviertel Linden.

Schaffenswelten

Auf seiner Online-Plattform www.cutiepatootie.de finden Otto-Fans – und solche, die es noch werden wollen – Kunst und Produkte für die Sinne:

  • Kunst kaufen
    Ob Leinwand, Holz oder Pappe: Otto-Originale für zu Hause.
  • Cutie Patootie
    Mit seinem Label „Cutie Patootie" bringt Otto seine inspirierende Kunst auf Produkte, die den Alltag bereichern.
  • Maria-Weine 
    Ob charakterstarker Riesling oder Spätburgunder mit feinfruchtigem Charakter. Auch wenn Otto keinen Wein mehr trinkt – seine guten Tropfen gönnt er anderen gerne.
  • Niemand Dry Gin
    Rosmarin, Lavendel & Sandelholz prägen diesen Gin und laden zu einem verträumten Spaziergang durch den Nadelwald ein. www.niemand-gin.de

Weitere Informationen finden Sie auf diesen Kanälen:
Instagram: @sebastianmariaotto
Facebook: facebook.com/sebastianmariaotto/

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